Dem Antisemitismus rechtzeitig entgegentreten

Ein Gespräch mit dem Historiker und Publizisten Michael Wolffsohn über den Antisemitismus in Deutschland und die Demonstrationen gegen Judenfeindlichkeit.

 

Herr Wolffsohn, nachdem sich in Deutschland antisemitische Vorfälle in der Öffentlichkeit häuften, wird im Land zu Solidaritätsaktionen mit den jüdischen Mitbürgern aufgerufen. „Berlin trägt Kippa“ war ein Beispiel solcher Aktionen. Was halten Sie davon?

 

MICHAEL WOLFFSOHN: Das ist sehr lobenswert. Die Initiative dazu kam von der Jüdischen Gemeinde Berlins. Warum nicht von der Bundesregierung, den Landesregierungen, den demokratischen Parteien oder den sonst politisch stets überbeflissenen und korrekten Kirchen, besonders den Kirchenobersten Bischof Bedford-Strohm und Kardinal Marx? Wichtig ist, dass klar wird: Die riesige Mehrheit der Deutschen lehnt Antisemitismus kategorisch ab. Entscheidend ist, was nach den Demonstrationen im Alltag passiert. Demonstrationen nutzen sich ab, ihr Hochgefühl schwindet, das Problem bleibt, wenn den schönen Worten keine Taten folgen.

 

Trauen Sie sich noch mit der Kippa auf die Straße?

 

WOLFFSOHN: Um mein Judentum zu leben, brauche ich keine Kippa außerhalb der Synagoge. Weder in Deutschland noch in Israel oder sonstwo. Ich verstehe den Rat von Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, der Einzelpersonen abrät, die Kippa sichtbar zu tragen. Die reale Gefahr für Leib und Leben ist nachweislich sehr groß. Nicht nur in Deutschland, auch in Frankreich und England.

 

Wie stark ist der Judenhass in Deutschland ausgeprägt? Ist er in der Mitte der Gesellschaft angekommen oder wird er „nur“ von wenigen offener zur Schau getragen?

 

WOLFFSOHN: Ihre Frage zielt, wie hierzulande auch beim Thema Antisemitismus üblich, vor allem auf die Gefahr von rechts. Die alte und neue Rechte ist, wie die alte und nicht gar so neue Linke, sehr wohl oft antisemitisch. Man muss zwischen zwei Formen des Antisemitismus unterscheiden. Der eine ist ein Antisemitismus der Worte. Er diskriminiert Juden. Der andere ein Antisemitismus der Gewalttaten. Er will Juden liquidieren, also angreifen oder gar ermorden. Der rechte und linke Antisemitismus sind zwar auch höchst unerfreulich, aber eher diskriminatorisch. Der liquidatorische Antisemitismus kommt heute fast ausschließlich aus der muslimischen Minderheit.

 

Einige deutsche Rapper sind, wenn es „gegen Juden geht“, nicht zimperlich. Nach der „Echo“-Preisverleihung an die Rapper Farid Bang und Kollegah, die in ihrem Album Auschwitz-Opfer verhöhnen, könnte der Verdacht aufkommen, die Jugend sei tendenziell antisemitisch eingestellt. Was meinen Sie?

 

WOLFFSOHN: Der entscheidende Unterschied ist nicht zwischen Jung und Alt, sondern zwischen Muslimen und Nichtmuslimen. Freilich muss auch unter Muslimen unterschieden werden. Gefährlich sind radikale Muslime und Islamisten, nicht Muslime schlechthin. Leider steigt aber die Zahl der Extremisten.

 

Deshalb machen wohl viele Politiker jetzt Front gegen den Antisemitismus. Kommt das zu spät?

 

WOLFFSOHN: Besser spät als gar nicht. Warum aber immer auf die Politiker schauen? Da schwebt der Ungeist des Untertanen im Kopf. Jeder einzelne Bürger ist gefordert.

 

Vom Untertanen zum Islamisten. Wie stark tragen diese zum herrschenden Antisemitismus bei?

 

WOLFFSOHN: Wieder liegt das Gewicht der Frage auf der Gefahr von rechts. Es gibt sie, aber sie ist derzeit weniger bedrohlich als die islamistische.

 

Aber woher rühren diese judenfeindlichen Einstellungen?

 

WOLFFSOHN: Hierfür gibt es zwei Quellen. Die erste ist religiös, die zweite nahostpolitisch. Im Koran und anderen zentralen islamischen Schriften ist Judenhass massenhaft nachweisbar. In Europa leben Millionen Muslime. Damit schwappt der arabisch-israelische beziehungsweise islamisch-jüdische Konflikt nach Deutschland und Europa über.

 

Wie kann nun gegen den Antisemitismus vorgegangen werden?

 

Die bequemste und übliche Antwort lautet: „Die Politik muss jetzt ran!“ Das ist richtig, reicht jedoch nicht. Eine Doppelstrategie von Zuckerbrot und Peitsche ist nötig. Zuckerbrot heißt Erziehung, Bildung und menschenwürdige materielle sowie ideelle Lebensbedingungen auch für Muslime. Peitsche heißt scharfes Ahnden von Straftaten durch Polizei und Gerichte sowie zum Beispiel an Schulen und Arbeitsplätzen scharfe disziplinarische Maßnahmen. mei

 

Zum Weiterlesen:

Michael Wolffsohn, Deutschjüdische Glückskinder – Eine Weltgeschichte meiner Familie, dtv-Verlag, 2017, 440 Seiten, 26 Euro.

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