Die Sehnsucht nach Glauben und Spiritualität

Frau Käßmann, Sie sind gebürtige Marburgerin. Was verbindet sie noch an die Stadt der Heiligen Elisabeth?

 

MARGOT KÄSSMANN: Ich erinnere mich gern an Marburg. Meine Schwestern und ich waren ja dort auf der Elisabethschule. Später habe ich mein Studium dort abgeschlossen und auch meine älteste Tochter ist dort geboren. Zwei meiner Töchter haben ein paar Semester in Marburg studiert.

 

Sie haben auch lange in Hessen gearbeitet. An was erinnern sie sich noch gerne?

 

KÄSSMANN: An die waldreiche und hügelige Landschaft. Wir haben als Familie sieben Jahre im Pfarrhaus in Spieskappel gelebt und später fünf Jahre in Fulda. Meine Mutter lebte in Stadtallendorf, die meines Mannes in Obersuhl. Hessen war also sehr präsent und die ganze Familie joggt gern. Das haben wir immer genossen.

 

 

Kommen wir zu Politik. Was halten Sie von großen Koalitionen?

 

KÄSSMANN: Ach, das lässt sich nicht generell beantworten. Sie können Stabilität bringen in unruhigen Zeiten, aber auch verhindern, dass es zu den notwendigen kritischen Debatten kommt.

 

Was stört Sie derzeit an der Politik am meisten?

 

KÄSSMANN: Zum einen finde ich den Stil der Auseinandersetzung furchtbar. Jeder und jede, die für eine Meinung einstehen, werden mit Spott und Häme, ja Bedrohungen niedergemacht. Das ist zum Teil abstoßend. Damit ist wirklich die politische Kultur bedroht. Zur Demokratie gehören Respekt vor der anderen Meinung und Würde in der Debatte.

 

Für Innen- und Heimatminister Seehofer gehört der Islam nicht zu Deutschland. Hat er recht?

 

KÄSSMANN: Als ich zur Schule ging, waren schon Kinder von Arbeitern aus der Türkei in meiner Klasse. Das war damals gar nicht dramatisch. Diese Kinder haben hier gearbeitet, Kinder und Enkel bekommen. Selbstverständlich sind sie Teil unseres Landes mit ihrer Religion. Meines Erachtens soll mit dieser Unterscheidung zwischen „den Muslimen“ und „dem Islam“ am rechten Rand „gefischt“ werden. 

 

Was hat das für die Betroffenen zur Folge?

 

KÄSSMANN: Ich kann gut verstehen, dass Menschen muslimischen Glaubens, die lange, gern und friedlich in unserem Land leben, ja Teil unseres Landes sind, sich dadurch ausgegrenzt fühlen. Wir brauchen eine postmigrantische Definition von Deutschland, sagte eine Politikwissenschaftlerin kürzlich, das hat mich überzeugt. Desintegriert sind ja wohl auch diejenigen, die die Freiheit für Muslime in unserem Land beschränken wollen. 

 

Sehen Sie die christlichen Kirchen den Islam als Bedrohung oder als Wettbewerber?

 

KÄSSMANN: Es geht nicht um ein Gegeneinander von Christentum und Islam, sondern darum, in diesem Land die Religionsfreiheit – das ist auch die Freiheit, ohne Religion zu leben – gegenüber Fundamentalisten zu verteidigen. 

 

In Zeiten einer wirtschaftlichen Hochkonjunktur kommen arme Menschen fast nur noch als „Kostgänger“ vor. Fehlt die Empathie für Notleidende?

 

KÄSSMANN: Nein. In unserem Land gibt es viel Engagement der Starken für die Schwachen! Die Tafeln werden doch von Ehrenamtlichen betrieben. Ich sehe in den Kirchengemeinden so viel Einsatz für Menschen am Rande und zwar nicht herablassend, sondern durch Begegnung auf Augenhöhe.

 

Auf der anderen Seite nehmen die Kirchenaustritte, das betrifft auch Hessen, immer mehr zu. Wo sehen Sie die Gründe hierfür und was können die Kirchen dagegen tun?

 

KÄSSMANN: Die Kirchenaustritte tun weh. Es kann doch nicht immer nur um Innovation und Mobilität gehen, sondern wir brauchen auch Wurzeln und Tradition. Ich denke, unsere Kirchen versuchen, eine gute Balance zwischen Tradition und Innovation zu finden. Ja, wir müssen uns erneuern. Aber es geht auch darum, dass die Menschen eine Sehnsucht nach Glauben und Spiritualität haben. 

 

Sie sind jetzt im Ruhestand. Auf was blicken Sie zurück?

 

KÄSSMANN: Ich habe frei gestaltbare Zeit. Auch Zeit für meine Enkelkinder. Ich war sehr gerne Pfarrerin und auch Landesbischöfin und Reformationsbotschafterin. Ich bin dankbar dafür, so wunderbare Aufgaben gehabt zu haben. Aber jetzt ist eine andere Zeit, die letzte Lebensetappe. Und die möchte ich bewusst gestalten. Meine vier Töchter sind alle erwachsen und können sich selbst ernähren mit ihren Familien. Es ist ein großes Privileg für mich, in meinem Alter abgesichert in den Ruhestand gegangen zu sein, das ist mir sehr bewusst. mei

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