Der Antisemitismus ist wieder unter uns

 

Herr Imhof, Sie haben sich mit den Juden in der Rhön beschäftigt. Was war der Anlass für Ihre Recherche?

 

MICHAEL IMHOF: Die jüdischen Landgemeinden in der hessischen Rhön waren bisher weitgehend weiße Flecken auf der Forschungslandkarte zur Geschichte des Judentums in der Region Fulda. Insbesondere war es mir wichtig, die Bedeutung der jüdischen Bevölkerung für die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung der Rhön ab der Mitte des 19. Jahrhunderts aufzuzeigen.

 

Der Blick auf die aktuelle politische Situation zeigt, dass der Antisemitismus in Deutschland wieder bedrohliche Ausmaße annimmt. Wo sehen Sie die Ursachen?

 

IMHOF: Ein latenter Antisemitismus ist als Bodensatz der politischen Einstellungen auch weiterhin in Deutschland flächendeckend vorhanden. Das belegen die regelmäßig durchgeführten Umfragen und Analysen zur politischen Bewusstseinslage der Bevölkerung. Dass die aktuelle rechtspopulistische Woge mit nationalistischen und fremdenfeindlichen Tönen auch antisemitisches Denken und Handeln nach oben spült, ist deutlich. Der Antisemitismus ist wieder salonfähig geworden, oftmals versteckt als Kritik an der aktuellen Politik der israelischen Regierung.

 

Wo hat die „Judenfeindlichkeit“ ihren Ursprung, woher rührt sie?

 

IMHOF: Die Ursprünge der „Judenfeindlichkeit“ liegen im religiösen Antijudaismus, in der Abgrenzung des Christentums vom Judentum. Die Anfänge gehen bis auf die Zeit des Frühen Christentums zurück. Insbesondere seit dem Mittelalter ist belegt, wie die damit einhergehende soziale Ausgrenzung in fast allen deutschen Territorien zu gewalttätigen Übergriffen und Pogromen führten.

 

Wie sah das Zusammenleben zwischen Juden und Christen aus?

 

IMHOF: Im Zusammenleben der jüdischen Minderheiten mit der christlichen Mehrheitsgesellschaft in den Städten des Mittelalters begegneten sich parallele Gesellschaften, die sich in ihren religiösen Riten und Festtagen, in ihrem von Religion geprägten im Alltag unterschieden. Mit dem Verbot, in den christlichen Zünften und Kaufmannsgilden Mitglied zu werden, wurden Juden von Kirche und Politik in den bei der Bevölkerung verhassten Geldhandel abgedrängt. Jude sein wurde zum Stereotyp für fremd sein. Juden wurden zu Sündenböcken für alle nicht oder nur schwer erklärbaren Ereignisse, wie zum Beispiel die Pest, für Geldverfall, Hungersnöte oder die Bedrohung durch die Türken des osmanischen Reiches.

 

Lassen Sie uns einen Blick auf die hessische Landkarte werfen. In welchen Regionen war in den vergangenen Jahrhunderten die Judenfeindlichkeit besonders ausgeprägt?

 

IMHOF: Hostienschändung verbreiteten sich seit der Zeit der Kreuzzüge wie ein Flächenbrand über ganz Europa aus. In den hessischen Regionen ereigneten sich die Massaker im Mittelalter überall wo Juden wohnten: Fulda 1235 , Frankfurt 1240 und Friedberg 1338. Während der Pestzeit um 1347 bis 1349 wurden die jüdischen Gemeinden in allen hessischen Städten (Frankfurt, Fulda, Friedberg, Marburg, Kassel, Hersfeld, Gelnhausen, Steinau a.d. Straße, Gießen, Butzbach) Opfer von Pogromen.

 

Und wo standen die Juden unter „Schutz“?

 

IMHOF: In jedem Territorium, in jeder Stadt, in der Juden lebten, benötigten sie von dem Landesherrn oder den Stadtherren eine Aufenthaltsgenehmigung, den sogenannten Judenschutz, der in einem persönlichen Schutzbrief beglaubigt und durch den abzulegenden Judeneid besiegelt wurde. Für diesen „Schutz“ mussten sie jährlich ein gesondertes Schutzgeld zahlen.

 

Wie hoch war dieses „Schutzgeld“?

 

Dieses Judenschutzgeld summierte sich mit anderen Sondersteuern auf eine Summe, die mehr als doppelt so hoch war wie die von christlichen Einwohnern zu zahlenden Abgaben. Letztlich war der Judenschutz und damit das Recht an den Juden schon im Mittelalter zur Ware verkommen, über die der Schutzherr mit Willkür verfügen konnte.

 

Wie würden Sie das heutige Verhältnis der „Deutschen“ zur jüdischen Bevölkerung beschreiben?

 

IMHOF: Gute Beispiele sind die Städte Kassel, Fulda, Marburg, Hanau, Frankfurt, Wiesbaden und Darmstadt. Diese Kommunen, die sich in ihren heutigen Strukturen überwiegend durch die Zuwanderung aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion formiert haben, bilden aus meiner Sicht auch eine Brücke zur Geschichte des vergangenen Judentums in Deutschland und sie sind ein Hoffnungsträger für die vielfältige Zukunft unseres Landes. In Fulda verläuft diese Entwicklung äußerst konstruktiv.

 

Hessen ist ländlich geprägt. Gab es einen Unterschied zwischen der Judenverfolgung/Diskriminierung auf dem Land und in der Stadt?

 

IMHOF: Neben Baden und Württemberg, Franken und der preußischen Rheinprovinz war Hessen eines der Kernländer des Landjudentums. In 300 der insgesamt etwa 900 Ortsgemeinden in Hessen existierten jüdische Gemeinden. Einen herausgehobenen Anteil daran hatte die Region Osthessen mit der Stadt Fulda und den Landkreisen Fulda, Hünfeld und Gersfeld mit fast 30 jüdischen Gemeinden. Diese hatten zum Teil einen Bevölkerungsanteil zwischen 10 und 17 Prozent der Einwohnerschaft.

 

Wie war die jüdische Bevölkerung integriert?

 

IMHOF: Die jüdischen Mitbürger wirkten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im gesellschaftlichen Leben mit. Sie waren in den örtlichen Vereinen, in der Feuerwehr oder den Sportvereinen aktiv, gehörten oftmals zu den Gründungsmitgliedern, sie wirkten in den Gremien der kommunalen Selbstverwaltung als Stadträte und Gemeindevertreter mit. Parallel zu den gesellschaftlichen Formen des Miteinander im Sozialen, im Wirtschaftlichen und Politischen, existierte im Untergrund, teils in aggressiven Eruptionen, aber eine latente Judenfeindlichkeit. 

 

Sie kümmern sich auch um Schülerprojekte. Wie bringen sie den Schülern das Thema „Juden“ näher?

 

IMHOF: In einer Kombination von medienunterstützter Einführung und selbständigen Recherchen in der Wanderausstellung „400 Jahre in der Rhön“ baut sich in unseren Workshops eine Informationsstruktur zum jüdischen Leben in den jüdischen Landgemeinden der Rhön auf. Stadtgänge zu den Stationen jüdischer Geschichte in Fulda oder den Orten ehemaliger jüdischer Gemeinden wie zu den jüdischen Friedhöfen erweitern das pädagogische Angebot in den städtischen und ländlichen Nahraum, der im Erfahrungsfeld der Jugendlichen liegt.  mei

 

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