Der Niedergang der Volksparteien

Herr Lochocki, nach den Landtagswahlen in Hessen und Bayern und den teilweisen katastrophalen Ergebnissen von SPD und CDU/CSU ist einmal mehr vom Niedergang der Volksparteien die Rede. Was machen diese ehemals staatstragenden Parteien falsch?

 

TIMO LOCHOCKI: Zwischen den Regierungsparteien gibt es keine Debatten mehr über Sozial- und Wirtschaftspolitik. SPD und CDU grenzen sich bei diesen Themenfeldern nicht klar voneinander ab. Das müssten diese aber, denn der Wähler will zwischen unterschiedlichen Konzepten auswählen können. 

 

Warum stehen die wichtigen Themen der Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht im Zentrum der politischen Diskussion?

 

LOCHOCKI: Weil im Hintergrund solcher Diskussionen in Deutschland immer die Migrationsdebatte „mitschwingt“. Hier gibt es zwischen den großen Parteien keinen bürgerlichen Konsens. Davon profitieren dann die Parteien, die bei diesem Thema ein klares Profil haben und nicht an der Regierung sind. Das sind in Deutschland derzeit die Grünen und die AfD.

 

Die Grünen befinden sich nach den zurückliegenden Landtagswahlen im Allzeithoch. Kann aus den Grünen eine Volkspartei werden?

 

LOCHOCKI: Sehr unwahrscheinlich, dass die Grünen eine Volksparteien werden. Das Klientel dieser Partei sind die jungen, gut ausgebildeten Großstädter. Das ist die wechselhafteste Wählergruppe, die es gibt. Die Grünen profitieren aktuell zum Beispiel davon, dass die Volksparteien kein programmatisches Angebot mehr haben und die Bundesregierung eine katastrophale Performance abgibt. Das sind alles Dinge, die nicht von den Grünen abhängen. Ich bezweifele, ob die Wahlerfolge der Grünen auch in den nächsten drei Jahren so weitergehen. Ein Führungswechsel in der CDU, Veränderungen bei der SPD oder ein externer Event wie eine Weltwirtschaftskrise, können die Situation für die Grünen gänzlich verändern.

 

Lassen Sie uns bei den traditionellen Volksparteien bleiben. Wann begann deren Niedergang?

 

LOCHOCKI: Der Niedergang der Volksparteien beginnt Mitte 2000er Jahre, als die Volksparteien anfangen, sich immer mehr programmatisch anzunähern. Die Folge: Die Wahlbeteiligung sinkt, immer mehr bleiben bei Wahlen zu Hause. Erst jetzt wachen diese Wählerschichten wieder auf, weil Parteien da sind, die klare programmatische Angebote haben. Die eingeschläferten Wähler sind wieder da.

 

Was treibt die Wähler von den Volksparteien weg?

 

LOCHOCKI: Das zentrale Moment ist der Streit zwischen Angela Merkel und Horst Seehofer in der Migrationsfrage. Das hat das Vertrauen der konservativen Wähler untergraben. Die SPD trifft dieser Streit indirekt, weil andere Themen, wie die Wirtschafts- und Sozialpolitik, nicht hochkommen, bei denen die SPD Profil zeigen könnte. Somit ist die Migration die Mutter aller Probleme der Volksparteien.

 

Gibt es für die politische Gemengelage in Deutschland auch ähnliche Beispiele in anderen Ländern?

 

LOCHOCKI: Wir befinden uns Deutschland in der gleichen Lage, wie Frankreich, Großbritannien und die USA vor 15 Jahren waren. In Frankreich hat das zur Inklusion der traditionellen französischen Parteienlandschaft und zum Aufstieg des Front National geführt, in Großbritannien zum Brexit und in den USA zur Wahl von Donald Trump. Auch dort war der Grund, dass die Volksparteien die Migrationproblematik nicht in den Griff bekommen haben. Andere Themen standen weit unten auf der Agenda. Für den Wähler stellte sich die Situation dann so dar, dass die Migration das wichtigste Thema ist und die etablierten Parteien es nicht lösen könne. Deshalb haben Sie Parteien und Personen gewählt, die hier kompromisslose Angebote haben. , Grüne und AfD sind hier in Deutschland das kulturelle Äquivalent auf die Migrationsfrage. 

 

Das lässt für unsere Volksparteien nichts gutes Erahnen?

 

LOCHOCKI: Bei der SPD hat ,man das Ende schon vor fünf, sechs Jahren prophezeit. Aber man hat gesehen, für die SPD und CDU geht es immer noch tiefer. Theoretisch könnten die Grünen und die AfD dagegen auf 30 Prozent steigen.

 

Wie sollte die Strategie von CDU/CSU und SPD jetzt aussehen?

 

LOCHOCKI: Beide Parteien sind an der Regierung und haben deshalb das Privileg, ihre Themen auf die Agenda zu setzen. Was sie aber brauchen, ist ein klarer bürgerlicher Kompromiss in der Migrationsfrage. Das beruhigt die konservativen Kräfte in der CDU und andere, wichtige Themen können wieder hochkommen. Das hilft beiden Volksparteien.

 

Die AfD ist das rote Tuch für die etablierten Parteien. Ist der Zenit der Rechtspartei mittlerweile erreicht, nachdem die letzten Wahlen nicht die erhoffte Stimmenzahlen einbrachten?

 

LOCHOCKI: Die AfD kann in ein riesiges, konservatives Wählerpotenzial hineingreifen, das liegt zwischen 45 und x-Prozent. Der Grund für den AfD-Zuspruch liegt nicht an den hohen Flüchtlingszahlen, sondern die konservativen sind entsetzt, weil niemand kann ihnen in der Migrationsfrage etwas anbieten kann. So sind die konservativen Seehofer und Jens Spahn immer an der progressiven Kanzlerin abgeprallt. Für die Wähler steht dann fest: Es gibt ein Problem, aber es gibt keine konservative Lösung. Vor diesem Hintergrund ist jede öffentlichkeitswirksame Niederlage von Seehofer und Spahn gut für die AfD. Anders dürfte es für die AfD aussehen, wenn beispielsweise Friedrich Merz CDU-Vorsitzender wird und Spahn später Innenminister.

 

Im linken Spektrum gibt es mit der von Sahra Wagenknecht ins Leben gerufene Bewegung „Aufstehen“ eine neue Entwicklung, die an die spanische Podemos-Bewegung erinnert. Hat diese Chancen?

 

LOCHOCKI: In den südeuropäischen Staaten sind solche gewinne linkspopulistischen Bewegungen stark, weil hier ökonomisch Probleme dort zentral sind. Hinzu kommt hier, das die Sozialdemokraten „links ankündigen“, aber „nicht liefern“. Für Deutschland hieße das, die SPD würde massiv nach links rücken und dann massiv scheitern, Dies würde die „Aufstehen“-Bewegung stark machen. Die SPD braucht diese Bewegung aber nicht, denn die Partei hat viele Sympathiewähler. Das Potenzial liegt zwischen 30 und 50 Prozent. Dafür muss sie nur „ihre“ Wähler von den Grünen, der CDU und der AfD zurückgewinnen. Die acht bis neun Prozent der Wähler, die an die Linkspartei „gebunden“ sind, braucht die SPD nicht. mei

 

Buchhinweis: Die Vertrauensformel. So gewinnt unsere Demokratie ihre Wähler zurück. Herder-Verlag, Freiburg 2018, 244 Seiten, 20 Euro

Zur Person: Der Politologe Timo Lochocki (Jahrgang 1985) ist Experte für rechtspopulistische Parteien in Europa und arbeitet für den German Marshall Fund. Zudem lehrt er Europäische Politik an der Humboldt Universität in Berlin und „James Knox Batten Visiting Professor“ am Davidson College in den USA.. mei

"