"Wir sind aus nostalgischen Gründen noch eine Volkspartei"

Die SPD ist nach dem Wahldesaster schnell zur Tagesordnung übergegangen und hat ihre Fraktionsspitze schon gewählt. Fühlt sich die Basis dadurch überrumpelt?

 

LINO LEUDESDORFF: Es scheint nach der Wahl eine gewisse Panik ausgebrochen zu sein. Es sieht so aus, als ob die Spitzenfunktionäre Angst haben, sich der Basis zu stellen. Deshalb muss jetzt alles anscheinend ganz schnell gehen. Durch solch ein Verhalten ist die SPD-Basis jedenfalls komplett ignoriert worden.

 

 Ignoriert wie bei der Entscheidung für den Kanzlerkandidaten?

 

 LEUDESDORFF: Das kann man so sagen, unser Kanzlerkandidat Martin Schulz wurde via der Zeitschrift „Stern“ verkündet, statt auf einem Parteitag gewählt. Bei der Wahl der Fraktionsspitze war es diese Woche ähnlich. Schulz verkündete diese Personalien. Eigentlich sollte es bei so wichtigen Entscheidungen, vor allem nach einem solchen Wahlergebnis, erst einmal eine Diskussion in der Partei geben.

 

SIMON WITSCH: Genauso ist es. In unserer Partei laufen diese Verfahren in umgekehrter Reihenfolge ab. Die Regionalkonferenzen finden erst dann statt, nachdem die Personalentscheidungen schon getroffen sind. Debatten über Personalien werden in Hinterzimmern geführt und die Parteitage zum Abnicken genutzt.

 

 Also ist die neue Fraktionschefin der SPD im Bundestag, Andrea Nahles, auch eine solche Hinterzimmerkandidatin?

 

LEUDESDORFF: Nahles ist nicht die schlechtestes Kandidatin. Sie ist auf jeden Fall etwas progressiver als die Gerhard-Schröder-Boys wie beispielsweise Sigmar Gabriel und Thomas Oppermann. Mit Mindestlohn oder Rente hat Sie in der Regierung ein paar positive Dinge umsetzen können. Ob Sie die richtige für den Neuanfang ist muss sie zeigen.

 

Sie gehörte aber auch zur Funktionärsriege der großen Koalition?

 

WITSCH: Das alles zeigt, dass die Führungsebene der SPD nicht dazu bereit ist, linkes Profil zu zeigen. Bei der Wahl der Fraktionsspitze lag wie immer ein Kompromiss zwischen Linken, Rechten und Netzwerkern zu Grund. Daraus kann nur das Fazit gezogen werden, dass es hierbei nicht auf die Zukunft der Partei ankommt, sondern es wird dem Proporz genüge getan.

 

Nahles hat ja nach Ihrer Wahl schon einmal kräftig zur Attacke geblasen, zumindest verbal. Wie ordnen Sie das ein?

 

Witsch: Über die Wortwahl kann man sich streiten. Aber mehr Schärfe gegenüber dem politischen Gegner – das ist nach zwei wachsweichen, konservativen Fraktionsführern Oppermann und Steinmeier zumindest ein Lichtblick. Wir von der DL21 fordern aber auch eine stärkere Beteiligung der Basis und eine Demokratisierung der SPD. Das ist es auch was wir von einer als links geltenden Fraktionsvorsitzenden Andrea Nahles erwarten und daran werden wir sie messen.

 

Lassen Sie uns noch einmal auf den Wahlkampf der SPD zurückkommen. Was lief alles falsch?

 

 LEUDESDORFF: Eine Kampagne wird zwei oder drei Jahre vor der Wahl vorbereitet und ein Jahr vor der Wahl gestartet. Bei der SPD war es so, dass unsere Wahlkampf-Agentur ein Jahr vor der Wahl Kandidat absprang. Dann wurde, wie gesagt, neun Monate vor der Wahl der Kanzlerkandidat vom Parteivorsitzenden im „Stern“ bekanntgegeben. Danach gab es aus Berlin mehrmals in der Woche neue Thesenpapiere. Die dienten mehr zu Verwirrung, als zur Erleuchtung.

 

Doch es gab doch auch den Schulz-Hype ...

 

 WITSCH: Dieser Hype war getrieben davon, dass die SPD endlich zu ihren linken Traditionen zurückkehrt. Es war die Sehnsucht vieler Menschen nach einer anderen Politik in Deutschland. Ein Rot-Rot-Grünes Regierungsbündnis was plötzlich ein Thema. So kamen zu einer Veranstaltung der Frankfurter Jusos zu diesem Thema über 600 Menschen in den Gallus-Saalbau. Eine Euphorie ging um.

 

Und dann kam die Ernüchterung ...

 

 WITSCH: Ja, die Partei setzte alles auf die Personalie Schulz und vergaß die Themen. Diese stellte sie erst in wöchentlichen Abständen kurz vor der Wahl der Öffentlichkeit vor. Quasi als Potpurri. Die Krönung im negativen Sinne war dann der Auftritt von Gerhard Schröder auf dem SPD-Parteitag in Dortmund. Der Kanzler, mit dem der Sinkflug der SPD begann. Am Ende blieb für alle nur eine große Enttäuschung übrig.

 

Nun hat Klaus von Dohnanyi den Rücktritt von Martin Schulz gefordert. Ist der größte SPD-Wahlverlierer noch zu halten?

 

Leudesdorff: Seit Dohnanyi’s Arbeit für die neoliberale Lobbygesellschaft „Initiative neue soziale Marktwirtschaft“ hört man von ihm wenig qualifizierte Kommentare. Rosneft-Mann Schröder ist ja auch bereits munter am Kritisieren. Der Politik dieser Leute ist der historische Verlust von 10 Millionen Wählerstimmen zu verdanken. Wir Sozialdemokraten müssen uns vor allem auf die inhaltliche Erneuerung fokussieren, die natürlich auch personell glaubwürdig vertreten werden muss. Wir erwarten hier von Martin Schulz entschiedene Schritte zur Erneuerung der Partei. Am Ende des Prozesses muss eine Vision entwickelt werden für die es sich wieder lohnt SPD zu wählen.

 

Blick in die Zukunft. Kann die SPD überhaupt noch schlagkräftige Opposition?

 

LEUDESDORFF: Unter dem heutigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier konnte es die SPD im Bundestag jedenfalls nicht. Wir hatten den Eindruck, dass die SPD ein Teil der Regierungskoalition ist, ohne Minister zu stellen. Heute sitzen dieselben Leute, wie damals, in der Opposition. Wir hoffen es. Warten mir mal ab.

 

WITSCH: Die SPD muss endlich erkennen und zugeben, dass sie die Ursache des Problems ist, dass sich immer mehr Menschen von der Partei abwenden. Es wäre gut, wenn sich die Partei für die Fehler der Agenda 2010 entschuldigt hätte. 

 

LEUDESDORFF: Trotzdem sind wir noch die Speerspitze der Sozialdemokratie in Europa, andere Schwesterparteien sind schon längst in der Versenkung verschwunden.

 

Aber es gibt in Europa auch linke Projekte, die erfolgreich sind. Ein Vorbild für die SPD?

 

LEUDESDORFF: Ja, an den erfolgreichen Regierungsprojekten wie beispielsweise in Portugal, wo sogar eine linke Minderheitsregierung funktioniert, kann die SPD sich etwas abschauen. Auch die britische Labour Party unter der Führung von Jeremy Corbyn hat mit einer Politik, die an die klassenkämpferischen 1970er und 1980er Jahre erinnert, Erfolg.

 

Was muss Ihre Partei tun, um auch wieder in die Erfolgsspur zu kommen?

 

WITSCH: Sie muss lernen zu polarisieren, wie das beispielsweise die AfD tut. Es gibt genügend Themen für die SPD, die sich dafür anbieten. Zum Beispiel die Diskussionen um ein bedingungsloses Grundeinkommen oder die Vermögensteuer bieten sich dafür an. Leider hat die SPD die Taktik des Wähler-Einschläferns von Angela Merkel übernommen.

 

Wo verorten Sie denn die Zielgruppe der SPD?

 

LEUDESDORFF: Die vielzitierten „Abgehängten“ haben das Vertrauen in die Politik in der Regel gänzlich verloren. Sie wählen nicht mehr oder wenn, wählen sie die AfD. Um diese Menschen müssen wir kämpfen und ihnen zeigen, dass wir ihnen helfen wollen und können. Jetzt zielt die SPD auf die Mitte der Gesellschaft. Dort buhlen aber alle Parteien um die Wähler. In der Mitte gibt es aber wenig für die SPD zu holen.

 

Die SPD kann sich aber über einen beachtlichen Mitgliederzuwachs freuen. Können diese nicht ihrer Partei zum Erfolg verhelfen?

 

LEUDESDORFF: Da liegt eine Chance – die bringen frischen Elan in die Partei und das kann die SPD brauchen. Dann müssen sich aber die Beteiligungsformen, die von der Partei angeboten werden, ändern. Unsere neuen Mitglieder haben kein Interesse, an Sitzungen teilzunehmen, bei den ellenlange Tagesordnungen abgearbeitet werden oder bei Delegiertenkonferenzen anwesend zu sein, die einfach nur langweilig sind. Die neuen Mitglieder wollen an der politischen Veränderung teilhaben und auch eigene Ideen in die Diskussion einbringen. Sie wollen jedenfalls keine Jubelperser auf Parteitagen sein.

 

Im nächsten Jahr wird in Hessen ein neuer Landtag gewählt. Welche Chancen hat die SPD, Regierungsverantwortung zu übernehmen?

 

WITSCH: Die Partei macht zwar eine gute Oppositionsarbeit, aber sie hat große Probleme diese Arbeit zu verkaufen. Ein Blick auf die aktuellen Umfragen zeigt auch, dass es schwierig werden wird, vor der CDU zu landen. Das wäre dann erst die Möglichkeit, die Grünen von der CDU loszueisen. Ich mache mir auch Sorgen, dass unser Landesvorsitzender, Thorsten Schäfer-Gümbel, zu stark mit der Bundespolitik identifiziert wird, da er auch stellvertretender SPD-Bundesvorsitzender ist. Das macht es schwierig, polarisierend aufzutreten, da er in dieser Position die Bundespolitik der SPD mit vertreten muss. 

 

Was braucht die Hessen-SPD?

 

WITSCH: Für die Landtagswahl brauchen wir eine klare Abgrenzung zur CDU. In der aktuellen Situation konnte man diesen Interessenskonflikt schon erkennen. Ich hätte mir beispielsweise gewünscht, dass Schäfer-Gümbel interveniert, als die Fraktionsspitze im Bundestag Knall auf Fall gewählt wurde, ohne die Basis mit ins Boot zu nehmen. Dass dies nicht geschehen ist, könnte mit Schäfer-Gümbels Doppelfunktion zusammenhängen.

 

Die SPD ist stolz darauf, eine Volkspartei zu sein. Ist sie das nach dem Wahldesaster überhaupt noch?

 

LEUDESDORFF: Bei einem Wahlergebnis von 20 Prozent fällt es mir schwer, das zu behaupten. Sie könnte in der jetzigen Verfassung auch in keine große Koalition eintreten, weil sie dafür einfach zu klein ist.

 

WITSCH: Man hat den Anspruch, aus nostalgischen Gründen eine Volkspartei zu sein. Da wollen wir wieder hin, jetzt sind wir es nicht. mei"