Streiks in Frankreich I: Was kann Macron den Franzosen zumuten?

Herr Galetti, hat Macrons Rentenreform in Frankreich das Fass einmal mehr zum Überlaufen gebracht? 

 

NINO GALETTI: Die Franzosen sind generell ein demonstrations- und streikfreudigeres Volk als wir Deutschen. In Deutschland gibt es zuerst Verhandlungen, und wenn es nicht vorwärtsgeht, wird gestreikt. In Frankreich läuft es genau andersherum: Erst muss demonstriert und gestreikt werden, um überhaupt an den Verhandlungstisch geladen zu werden. Die Gewerkschaften haben die Streiks und die Großdemonstrationen bewusst vor die Bekanntgabe der Details der geplanten Rentenreform gelegt, um gegenüber der Regierung ein klares Zeichen zu setzen und Druck aufzubauen. 

 

Was waren die Gründe für die geplante Einführung der Rentenreform? 

 

GALETTI: Das französische Rentensystem ist reformbedürftig. Das sehen auch über 70 Prozent der Franzosen so. Staatspräsident Macron hatte schon vor seiner Wahl 2017 angekündigt, das gegenwärtige System aus 42 Kassen in eine Einheitskasse zu überführen. Außerdem soll künftig – wie in Deutschland – ein Punktesystem Grundlage für die Rentenberechnung sein. Ziel ist es, dass die Finanzierung der Rente gerechter und zukunftsfest wird: Für jeden eingezahlten Euro sollen alle Rentner künftig denselben Betrag erhalten. 

 

Wie schätzen Sie die Macht der Gewerkschaften in diesem Kampf ein? 

 

GALETTI: Das wird sich im Verlauf der kommenden Tage zeigen. Die Gewerkschaften leiden unter Mitgliederschwund. Seit Macron ins Amt gekommen ist, haben ihre Demonstrationsaufrufe nur wenig Widerhall gefunden. Bei den Gelbwestenprotesten vor einem Jahr haben die Gewerkschaften praktisch keine Rolle gespielt. Dass derzeit aber so viele Arbeitnehmer dem Streikaufruf folgen, hat damit zu tun, dass insbesondere die im öffentlichen Dienst Beschäftigten um ihre bisherigen Privilegien bangen und Nachteile befürchten. Diese Verunsicherung ist auch dadurch gestiegen, dass die Regierung lange keine Details zur Rentenreform bekanntgegeben hat. 

 

Wird die Regierung einknicken? Wird es zu einem Kompromiss kommen? 

 

GALETTI: Die Regierung hat sich in den vergangenen Tagen sehr genau angeschaut, wie stark die Unterstützung für die Forderungen der Gewerkschaften sind und wird daraus ihre Schlüsse für die Reichweite der Reform gezogen haben: Was ist der Bevölkerung zuzumuten, was eher nicht? Wird das Renteneintrittsalter von derzeit 62 Jahren erhöht? Welchen Wert hat ein Rentenpunkt? Ab welchem Geburtsjahrgang greift die Reform? Ziel der Regierung ist, die Rentenreform umzusetzen und zu einem Erfolg zu machen – nicht zuletzt in Hinblick auf die nächsten Wahlen. 

 

Wie schätzen Sie das Standing Macrons bei den Franzosen generell ein? 

 

GALETTI: In Umfragen ist das Ansehen Macrons nach den Gelbwestenprotesten vor einem Jahr wieder gestiegen: rund 35 Prozent der Franzosen befürworten seine Linie und würden ihn auch erneut wählen. Schwierig wird es für Macron bei den sozialliberal orientierten Wählern, die ihm 2017 aus voller Überzeugung ihre Stimme gegeben haben, für die er inzwischen jedoch aufgrund seiner arbeitgeberfreundlichen Maßnahmen, wie der Abschaffung der Vermögenssteuer, ein „Präsident der Reichen“ ist. Viele von ihnen wollen 2022 gar nicht mehr zu Wahl gehen – und nehmen bewusst die Gefahr in Kauf, dass dann die Chancen von Marine Le Pen steigen. 

 

Welche seiner politischen und wirtschaftlichen haben bisher gefruchtet? 

 

GALETTI: Macron ist seit seinem ersten Tag im Amt von einem ungebändigten Reformeifer getrieben: er hat unzählige Projekte angestoßen und umgesetzt. Nicht nur im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik, sondern auch im bildungs- und gesellschaftspolitischen Bereich. Die Maßnahmen wirken: Das Haushaltsdefizit lag in den letzten beiden Jahren unter drei Prozent, die Arbeitslosigkeit sinkt langsam aber stetig und ist so niedrig wie seit über zehn Jahren nicht mehr. Das Abitur wurde modernisiert und eine allgemeine Dienstpflicht für junge Menschen eingeführt. Macron hat in den vergangenen zwei Jahren womöglich mehr Veränderungen angestoßen als seine Vorgänger in den 20 Jahren zuvor. 

 

Die Gelbwesten-Proteste hat Macron überlebt. Was ist eigentlich aus dieser Bewegung geworden? 

 

GALETTI: Die Gelbwesten haben es trotz ihrer monatelangen Präsenz nicht vermocht, sich ein Programm, eine Struktur oder eine Führung zu geben. Die Bewegung wurde zunehmend von gewaltbereiten Extremisten unterwandert. Bei der Europawahl sind gleich zwei Listen der Gelbwesten angetreten – und haben zusammen gerade einmal ein Prozent der Stimmen erhalten. Derzeit spielen sie keine Rolle mehr. Aber die Probleme, die sie angeprangert haben, sind geblieben: etwa, dass bei vielen Franzosen trotz guter Ausbildung und ordentlichem Job am Ende des Monats das Geld knapp wird. Dieses Problem hat Macron noch nicht lösen können und darin besteht eine Gefahr. mei

 

English version

 

An interview with Nino Galetti, head of the Konrad Adenauer Foundation office in Paris, about the trade union strikes against President Macron's pension reform plans. Mr Galetti, has Macron's pension reform in France once again been a disaster? 

 

NINO GALETTI: In general, the French are a people more eager to demonstrate and strike than we Germans. In Germany there are negotiations first, and if there is no progress, there is a strike. In France, things are exactly the other way round: first there must be demonstrations and strikes in order to be invited to the negotiating table at all. The trade unions deliberately placed the strikes and the large-scale demonstrations before announcing the details of the planned pension reform in order to send a clear signal to the government and build up pressure. 

 

What were the reasons for the planned introduction of the pension reform? 

 

GALETTI: The French pension system is in need of reform. More than 70 percent of the French also see it that way. Even before his election in 2017, President Macron had announced that he would transfer the current system from 42 funds to a single fund. In addition, as in Germany, a points system will be the basis for calculating pensions in the future. The aim is to make the financing of pensions fairer and future-proof: In future, all pensioners will receive the same amount for every euro paid in. 

 

How do you assess the power of the trade unions in this fight? 

 

GALETTI: That will become apparent over the next few days. The trade unions are suffering from a loss of members. Since Macron took office, their calls for demonstrations have had little impact. The unions played virtually no role in the yellow-white protests a year ago. But the fact that so many workers are currently following the strike call has to do with the fact that public sector workers in particular are worried about their previous privileges and fear disadvantages. This uncertainty has also increased due to the fact that the government has not announced any details on the pension reform for a long time. 

 

Will the government fold? Will there be a compromise? 

 

GALETTI: Over the past few days, the government has taken a very close look at how strong the support for the trade unions' demands is and will have drawn its conclusions from this for the scope of the reform: What can be expected of the population and what not? Will the current retirement age of 62 years be raised? What is the value of a pension point? From which birth cohort does the reform take effect? The government's goal is to implement the pension reform and make it a success - not least in view of the next elections. 

 

How do you assess the standing of Macrons among the French in general? 

 

GALETTI: In surveys, Macron's reputation has risen again after the yellow-west protests a year ago: around 35 percent of the French support his line and would vote for him again. Macron finds it difficult with the social-liberally oriented voters, who gave him their vote in 2017 with full conviction, but for whom he is now a "president of the rich" because of his employer-friendly measures, such as the abolition of the wealth tax. Many of them don't want to vote at all in 2022 - and consciously accept the danger that Marine Le Pen's chances will increase. 

 

Which of its political and economic leaders have so far borne fruit? 

 

GALETTI: Since his first day in office, Macron has been driven by an unbridled zeal for reform: he has initiated and implemented countless projects. Not only in the field of economic and social policy, but also in education and social policy. The measures are working: The budget deficit has been below three percent in the last two years, unemployment is slowly but steadily falling and has not been as low as it has been for over ten years. The Abitur was modernised and a general compulsory service for young people was introduced. Macron may have initiated more changes in the past two years than its predecessors in the previous 20 years. 

 

Macron survived the yellow vest protests. What has become of this movement? 

 

GALETTI: The Yellow Vests have not been able to give themselves a program, a structure or a leadership despite their presence for months. The movement was increasingly infiltrated by violent extremists. In the European elections, two yellow vest lists took part - and together they won just one percent of the vote. At present they no longer play a role. But the problems they denounced have remained: for example, that many French people, despite good education and a decent job, run out of money at the end of the month. Macron has not yet been able to solve this problem, and there is a danger that it will. mei