Soziologe: Ausgangssperren sollten befristet sein

Wie wird sich das Herunterfahren unseres sozialen Lebens auswirken? Offen gesagt: Wir wissen es nicht. Eine solche Lage hat es seit Weltkriegsende nicht gegeben. Vieles wird davon abhängen, ob die tragenden Säulen der Gesellschaft weiter funktionieren: die Wirtschaft, vor allem Branchen, die lebenswichtige Güter herstellen, der Staat, zu dem das Gesundheitssystem gehört, Politik, die öffentliche Verwaltung, Polizei.

 

Und das wiederum hängt davon ab, ob die Menschen in den sensiblen Bereichen weiterarbeiten und sich die Mehrheit sich an die staatlichen Anordnungen halten. Stand heute ist das alles gegeben. 

 

Der Stellenwert des Kollektivs ist höher

 

Asiatische Gesellschaften veranschlagen - wie auch die europäischen noch vor wenigen Jahrzehnten - den Stellenwert des Kollektivs höher als den des Individuums. Wird die Einschränkung von als selbstverständlich empfundener persönlicher Freiheiten im Westen akzeptiert? Die aktuellen Umfragen in Deutschland zeigen eine große Akzeptanz in der Bevölkerung für die Maßnahmen der Eindämmung sozialer Kontakte. Nur wissen wir nicht, wie lange das hält, wenn nach und nach die Folgen der Freiheitsbegrenzung stärker durchschlagen. In Italien haben Kollegen von Handy-Bewegungsdaten gezeigt, dass sich immer weniger Menschen an die Ausgangssperre halten. Gerade Jüngere bei uns sind es überhaupt nicht gewohnt, dass der Staat derart drastisch in ihr Alltagsleben eingreift. 

 

Krisen bringen oft das Beste, aber auch das Schlechteste im Menschen hervor

 

Krisen bringen oft das Beste, aber auch das Schlechteste im Menschen hervor. Wird der soziale Kitt bei uns eher gefestigt oder eher bröckeln? Im Moment sehe ich eher positive Signale. Menschen, die sich um ihre Gesundheit und die ihrer Nächsten sorgen, rücken zusammen und helfen einander. Ob die das immer ohne direkte Kontakte hinkriegen, sei dahingestellt. Auf jeden Fall wird die Krise deutlich machen, dass moderne Gesellschaften gesundheitlichen Bedrohungen ausgesetzt sein können, für die sie sich besser rüsten sollten. Kann sein, dass wir nach der Krise einen gesellschaftlichen Konsens darüber haben, die Kapazität des Gesundheitssystems auszubauen. Das wäre auch eine Form der Festigung des sozialen Kitts. 

 

Vereinsamung alter Menschen ist ein Problem

 

Welche Risiken birgt aus soziologischer Sicht die aus virologischer Sicht sinnvolle Ausgangssperre? Das kann derart viele negative Folgen mit sich bringen, dass es nur das allerletzte Mittel sein kann. Man denke an Vereinsamung von alten Menschen besonders in den Großstädten und Konflikte innerhalb von Familien, wenn alle Mitglieder eines Haushaltes die Wohnung nicht verlassen dürfen. Und es wird massive wirtschaftliche Folgen haben, wenn man eine hochspezialisierte Volkswirtschaft runterfährt. Die geht nicht einfach so auf Knopfdruck wieder online nach der Ausgangssperre. Wenn es doch eine Ausgangssperre geben sollte, rate ich dazu, die als befristet anzukündigen. Wenn Menschen wissen, wie lange die Ausgangssperre anhält, werden sie eher bereit sein, die Regeln zu akzeptieren und die Belastungen zu ertragen. pm, ots

 

Quelle: Landeszeitung Lüneburg, Holger Lengfeld

 

English version

 

Sociologists are also currently experiencing exciting times, quasi a mass experiment that would otherwise not be possible. An analysis by the sociologist Holger Lengfeld: How will the shutdown of our social life affect us? Frankly speaking: We don't know. Such a situation has not existed since the end of the world war. Much will depend on whether the supporting pillars of society continue to function: the economy, especially industries that produce vital goods, the state, to which the health system belongs, politics, public administration, the police.

 

And that in turn depends on whether people continue to work in the sensitive areas and whether the majority adhere to government orders. As things stand today, all this is given. 

 

The status of the collective is higher

 

Asian societies - like European societies just a few decades ago - value the collective more highly than the individual. Is the restriction of personal freedoms that are taken for granted accepted in the West? Current surveys in Germany show a high level of acceptance among the population for measures to curb social contacts. But we don't know how long this will last if the consequences of limiting freedom gradually become more pronounced. In Italy, colleagues from mobile phone movement data have shown that fewer and fewer people observe the curfew. Younger people in our country in particular are not at all used to the state intervening so drastically in their everyday lives. 

 

Crises often bring out the best, but also the worst in people

 

Crises often bring out the best, but also the worst in people. Will the social cement in our society become more solid or more crumbling? At the moment I see rather positive signals. People who are concerned about their health and that of their neighbours are moving closer together and helping each other. It remains to be seen whether they always manage to do this without direct contact. In any case, the crisis will make it clear that modern societies can be exposed to health threats for which they should be better equipped. It may be that after the crisis we will have a social consensus to expand the capacity of the health system. This would also be a way of consolidating social cement. 

 

Loneliness of old people is a problem

 

What are the sociological risks of a curfew, which makes sense from a virological point of view? This can have so many negative consequences that it can only be the very last resort. One thinks of loneliness of elderly people, especially in big cities, and conflicts within families when all members of a household are not allowed to leave their homes. And there will be massive economic consequences if a highly specialised economy is run down. It doesn't just go back online at the push of a button after the curfew. If there is a curfew, I would advise announcing it as temporary. If people know how long the curfew will last, they will be more willing to accept the rules and bear the burden. pm, ots, mei

 

Source: Landeszeitung Lüneburg, Holger Lengfeld