In der Corona-Krise haben sich die Aktienmärkte von der Realität abgelöst

Dazu zählt, ebenso wie die Geschwindigkeit des Kursabsturzes und die Heftigkeit der Marktschwankungen in der Panikphase des März, die seit zweieinhalb Monaten anhaltende Erholungsrally. Ihr Ausmaß ist überaus beeindruckend und überraschend.

 

In der abgelaufenen Woche hat der Dax 4,6% gewonnen, nachdem er in der Woche davor bereits um 5,8% zugelegt hatte - also in nur zehn Handelstagen 10,7% bzw. rund 1120 Zähler. Auf Basis seines Erholungshochs hat der Index im Vergleich zu seinem Crash-Tief von Mitte März in der Spitze sage und schreibe 43% gewonnen. Mit dieser Hausse haben sich die Aktienmärkte jedoch mittlerweile völlig von der Realität losgelöst, die geprägt ist vom schwersten ökonomischen Absturz seit der Großen Depression sowie derzeit kaum kalkulierbaren Aussichten und Risiken für den Rest des Jahres und auch für die Zeit danach.

 

Einmalige Unterstützungen in der Wirtschaftsgeschichte

 

Bis zu einem gewissen Grade, wenn auch nicht in diesem Ausmaß, ist die Erholung vom Schock des ausgehenden Winters nachvollziehbar. Geld- und Fiskalpolitik greifen in dieser Krise weltweit in einem Ausmaß stützend ein, das in der Wirtschaftsgeschichte einmalig ist. Hinzu kommen die zunehmende Aufhebung der Mobilitätsbeschränkungen, mit der ein allmähliches Wiederhoch-fahren der Wirtschaft eingeleitet wird, und die hohe Intensität, mit der weltweit an der Entwicklung von Impfstoffen und Mitteln zur Behandlung von Covid-19 gearbeitet wird. 

 

Mangel an hinreichenden Alternativen

 

Außerdem hat sich der Mangel an hinreichenden Alternativen zu Dividendentiteln verstärkt, weil der Zins rund um den Globus quasi abgeschafft wird. Jüngstes Beispiel war am Donnerstag die Zentralbank Polens, die ihren Leitsatz von 0,50% auf 0,10% reduziert hat. Nicht zuletzt setzen die Märkte darauf, dass auch die Währungshüter Großbritanniens und der USA ihre Leitzinsen in den Minusbereich befördern könnten. 

 

Aktienmärkte handeln nicht die schwarze Realität

 

Es ist völlig normal, dass die Aktienmärkte nicht die schwarze Realität der Gegenwart handeln. Schließlich nehmen die Marktteilnehmer die Zukunft vorweg - oder versuchen das zumindest. Es sind aber erhebliche Zweifel an dem Szenario angebracht, das an den Aktienmärkten derzeit eingepreist wird. Kurz zusammengefasst reflektiert das Ausmaß der Hausse die Einschätzung, dass die Pandemie und die von ihr ausgelöste schwere Wirtschaftskrise innerhalb eines eher überschaubaren Zeitraums überwunden werden und somit auch relativ schnell einigermaßen der Zustand von vor der Krise wieder erreicht werden kann. In der Einschätzung, dass diese Krise überstanden wird, liegen die Aktienmärkte richtig, bezüglich der Geschwindigkeit der Überwindung jedoch wahrscheinlich nicht. 

 

Marktteilnehmer begehen einen Timing-Fehler

 

Mit anderen Worten: Die Marktteilnehmer begehen einen Timing-Fehler. Die Pandemie und damit die Wirtschaftskrise werden eben nicht schnell vorübergehen. Es ist noch nicht absehbar, wann es einen Impfstoff geben und wie schlimm der wirtschaftliche Schaden ausfallen wird. Längerfristig stellen sich weitere potenzielle Probleme, deren Folgen kaum kalkulierbar sind. Dazu zählen die wieder zunehmenden Spannungen zwischen den USA und China, ein infolge einer teilweisen Deglobalisierung beeinträchtigter Welthandel oder etwa auch eine Abschwächung des Shareholder Value. 

 

Kritisch sieht die Bewertungslage aus

 

In einer Hinsicht ist der Zustand der Jahreswende wieder erreicht. Die Aktienmärkte haben ein Niveau erklommen, auf dem zuversichtliche Szenarien berücksichtigt sind, negative Überraschungen aber überhaupt nicht. Sie sind damit stark korrekturanfällig, auch wenn ein erneuter Crash wie in den Monaten Februar und März unwahrscheinlich sein dürfte. Kritisch sieht etwa die Bewertungslage aus. Der Dax befindet sich derzeit in etwa auf dem Niveau von Ende Februar. Seither ist der Konsens für den Dax-Gewinn je Aktie dieses Jahres jedoch von 918 auf 627 Indexpunkte abgesackt. Im Ergebnis ist das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) des Index in den zurückliegenden drei Monaten von 13 auf 18,5 hochgeschnellt. Tritt die Befürchtung der Commerzbank ein, dass der Dax-Gewinn noch auf 550 Indexpunkte fällt, läge das KGV sogar bei 21,1. 

 

Größte Teil der Rally liegt hinter uns

 

Es kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass der Dax weiter zulegt und Höhen deutlich über 12.000 Punkten erreicht. Der größte Teil der Rally dürfte jedoch erst einmal hinter uns liegen. Noch mal 20% würden den Index auf einen Stand von 13.904 Punkte hieven, das KGV auf Basis der vermutlich noch weiter sinkenden Gewinne bzw. Konsensprognose läge dann bei 22,2. Das wäre dann erst recht zu hoch für das extrem unsichere und risikoreiche Umfeld, in dem sich der Aktienmarkt in diesem Jahr bewegt. pm, ots; Quelle: Börsen-Zeitung, Christopher Kalbhenn

 

English version

 

As a result of the Corona pandemic, the financial markets are experiencing a year of extremes. These include, as well as the speed of the price slump and the severity of the market fluctuations during the panic phase in March, the recovery rally that has lasted for two and a half months. Its extent is extremely impressive and surprising.

 

In the past week, the Dax gained 4.6%, after having already gained 5.8% the week before - in just ten trading days 10.7% or around 1120 points. Based on its recovery high, the index has gained no less than 43% compared to its crash low of mid-March. With this bull market, however, the stock markets have now completely detached themselves from reality, which is characterized by the worst economic crash since the Great Depression and currently hardly calculable prospects and risks for the rest of the year and also for the time after.

 

Unique support in economic history

 

To a certain extent, although not to the same extent, the recovery from the shock of the end of winter is understandable. In this crisis, monetary and fiscal policy are intervening worldwide to a degree that is unique in economic history. This is compounded by the increasing lifting of mobility restrictions, which is heralding a gradual recovery of the economy, and the high intensity of work on the development of vaccines and treatments for Covid-19 worldwide. 

 

Lack of sufficient alternatives

 

In addition, the lack of sufficient alternatives to equities has increased because interest rates around the world are virtually being abolished. The most recent example on Thursday was the Central Bank of Poland, which reduced its key rate from 0.50% to 0.10%. Last but not least, the markets are counting on the fact that the currency guardians of Great Britain and the USA could also push their key rates into the minus range. 

 

Stock markets do not trade the black reality

 

It is perfectly normal that stock markets do not trade the black reality of the present. After all, market participants are anticipating the future - or at least trying to do so. However, there are considerable doubts about the scenario that is currently being priced in on the stock markets. In a nutshell, the extent of the bull market reflects the assessment that the pandemic and the severe economic crisis it has triggered will be overcome within a rather manageable period of time and that the pre-crisis situation can be restored relatively quickly. The stock markets are correct in their assessment that this crisis will be overcome, but probably not in terms of the speed of recovery. 

 

Market participants commit a timing error

 

In other words, market participants are committing a timing error. The pandemic and the economic crisis will not pass quickly. It is not yet clear when a vaccine will be available and how bad the economic damage will be. In the longer term, there are other potential problems whose consequences are hard to calculate. These include renewed tensions between the USA and China, a partial deglobalization of world trade, or a weakening of shareholder value. 

 

The valuation situation looks critical

 

In one respect, the situation at the turn of the year has been reached again. The stock markets have climbed to a level where confident scenarios are taken into account, but negative surprises are not at all. They are therefore highly susceptible to corrections, even if another crash like the ones in February and March is unlikely. The valuation situation, for example, looks critical. The Dax is currently at about the same level as at the end of February. Since then, however, the consensus for this year's Dax earnings per share has plummeted from 918 to 627 index points. As a result, the price-earnings ratio (P/E) of the index has jumped from 13 to 18.5 in the past three months. If Commerzbank were to fear that the Dax profit would still fall to 550 index points, the P/E ratio would even be 21.1. 

 

Most of the rally is behind us

 

Although it cannot be ruled out that the Dax will continue to gain ground and reach levels well above 12,000 points, it is still possible that it will not be able to achieve the same level in the future. However, most of the rally should be behind us for the time being. A further 20% would lift the index to 13,904 points, and the P/E ratio based on the presumably even further declining profits or consensus forecast would then be 22.2. This would then be all the more excessive for the extremely uncertain and risky environment in which the stock market is moving this year.

pm, ots, mei; Source: Börsen-Zeitung, Christopher Kalbhenn