Amtsärzte laufen Sturm: Inzidenzwerte bilden nicht das tatsächliche Infektionsgeschehen ab - Scharfe Kritik an No-Covid-Strategie

Es sei "nicht zielführend, Eindämmungsmaßnahmen an Inzidenzen von 20/35/50" zu koppeln, heißt es einer Stellungnahme aller zwölf Amtsärzte, die dem Tagesspiegel exklusiv vorliegt.

 

Das Papier wurde am Wochenende als Stellungnahme an die Senatskanzlei geschickt. "Diese Inzidenzen bilden nicht das wirkliche Infektionsgeschehen ab", schreiben die Amtsärzte. Sie seien von Testkapazitäten und dem Testwillen der Menschen abhängig. "Dadurch kommt es zu Schwankungen, die nicht die infektiologische Lage widerspiegeln." Es sei ein Unterschied, ob Inzidenzen durch Cluster-Ausbrüche oder breite Durchseuchung zustande kämen und auch, welche Altersgruppen infiziert seien, argumentieren die Mediziner. Stattdessen schlagen sie vor, Maßnahmen nach den möglichen Konsequenzen einer Erkrankung auszurichten.

 

Intensive Maßnahmen der Infektionsprävention

 

Sie wollen "intensive Maßnahmen der Infektionsprävention" für Alte und Kranke und gleichzeitig eine Abmilderung der Maßnahmen für andere Gruppen wie Schulkinder. Es soll deshalb in Zukunft eine nach Alterskohorten ausgerichtete Inzidenzanalyse als "Frühwarnsystem" geschaffen werden.

 

Politische Maßnahmen ausrichten

 

Aus dem Kreis der Amtsärzte hieß es, es sei ein "großer Unterschied", ob eine Sieben-Tages-Inzidenz von 50 herrsche, alle Infizierten symptomfreie Kinder seien und die über 80-Jährigen schon durchgeimpft wären oder ob bei einer Inzidenz von 50 vor allem Risikogruppen betroffen seien. Danach müsste man auch die politischen Maßnahmen ausrichten.

 

Scharfe Kritik an No-Covid-Strategie

 

Sogenannte "No-Covid"-Strategien, wie sie von führenden Wissenschaftlern erarbeitet wurden, kritisieren die Amtsärzte scharf. Diese würden "den Lebenswirklichkeiten nicht gerecht", heißt es. Diese Modelle würden andere Fragen der öffentlichen Gesundheit völlig außer Acht ließen.

Die Leiter der bezirklichen Gesundheitsämter fordern den Senat außerdem auf, finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, um "insbesondere zu dem wissenschaftlichen Stand der Impfungen" aufzuklären.

 

Hoher Durchimpfungsgrad gefordert

 

Ein hoher Durchimpfungsgrad sei "eine entscheidende Säule", um sich Lockerungen leisten zu können. Am Montag kehren in Berlin wie in vielen anderen Bundesländern die Klassen eins bis drei als erste wieder in in den Präsenzunterricht zurück. Die Präsenzpflicht ist allerdings ausgesetzt, der Unterricht findet im Wechselmodell statt. Die Inzidenz in Berlin sinkt seit Tagen nicht mehr, sondern stagniert. Am Sonntag lag sie bei 56,5 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner je Woche. pm, ots

 

English version

 

Berlin's public health officers demand that relaxations no longer be linked to general incidence values. It is "not expedient to link containment measures to incidences of 20/35/50", according to a statement by all twelve public health officers, which is exclusively available to the Tagesspiegel.

 

The paper was sent as a statement to the Senate Chancellery at the weekend. "These incidences do not reflect the real incidence of infection," the public health officers write. They are dependent on testing capacities and people's willingness to test, they say. "This results in fluctuations that do not reflect the infectious situation." It makes a difference whether incidences come from cluster outbreaks or widespread contagion, and also which age groups are infected, the medical experts argue. Instead, they suggest that measures should be geared to the possible consequences of a disease.

 

Intensive infection prevention measures

 

They want "intensive infection prevention measures" for the old and the sick, and at the same time a mitigation of measures for other groups such as schoolchildren. Therefore, an incidence analysis based on age cohorts is to be created in the future as an "early warning system".

 

Aligning policy measures

 

The public health officers said that it makes a "big difference" whether there is a seven-day incidence of 50, all infected persons are symptom-free children and the over-80s have already been vaccinated or whether, with an incidence of 50, mainly risk groups are affected. Political measures would also have to be geared to this.

 

Sharp criticism of the no-covid strategy

 

So-called "no-covid" strategies, as they have been developed by leading scientists, are sharply criticised by the public health officers. These would "not do justice to the realities of life", they say. These models would completely disregard other public health issues.

The heads of the district health offices also call on the Senate to provide financial resources to educate people "especially on the scientific status of vaccinations".

 

High vaccination coverage demanded

 

A high level of vaccination coverage is "a crucial pillar" to be able to afford relaxations. On Monday, as in many other federal states, classes one to three in Berlin will be the first to return to attendance classes. However, compulsory attendance is suspended, and lessons take place in alternating models. The incidence in Berlin has not been falling for days, but has stagnated. On Sunday, it was 56.5 new infections per 100,000 inhabitants per week.

pm, ots, mei