Deutscher Ethikrat für Ausweitung der Impfpflicht

Auf der Grundlage einer differenzierten Darstellung wesentlicher ethischer und rechtlicher Argumente für und gegen eine allgemeine gesetzliche Impfpflicht plädiert der Deutsche Ethikrat in seiner am 22. Dezember veröffentlichten Ad-hoc-Empfehlung "Ethische Orientierung zur Frage einer allgemeinen gesetzlichen Impfpflicht" für eine Ausweitung der Impflicht über die kürzlich vom Deutschen Bundestag beschlossene bereichsbezogene Impfpflicht hinaus.

 

Mit der vorgelegten Empfehlung kommt der Deutsche Ethikrat einer Bitte der Bundesregierung und der Ministerpräsidentinnen und -präsidenten vom 2. Dezember 2021 nach, eine Einschätzung zu den ethischen Aspekten einer allgemeinen gesetzlichen Impfpflicht abzugeben. Er betont, dass hohe Impfquoten entscheidend sind, um in eine kontrollierte endemische Situation zu kommen. Derzeit stößt das deutsche Gesundheitssystem vielerorts an seine Grenzen. Virusvarianten wie Omikron und erwartbar weitere Varianten des Virus nötigen Sachverständige dazu, ihre Einschätzungen zum künftigen Pandemieverlauf immer wieder aufs Neue zu überprüfen.

 

Ad-hoc-Empfehlung mit vier Gegenstimmen

 

Mit seiner mit den Stimmen von 20 Ratsmitgliedern bei vier Gegenstimmen verabschiedeten Ad-hoc-Empfehlung möchte der Deutsche Ethikrat einen Beitrag zur ethischen Urteilsbildung in Bezug auf eine mögliche Erweiterung der Impfpflicht leisten. Er unterstreicht, dass eine gesetzliche Impfpflicht stets eine erhebliche Beeinträchtigung rechtlich und moralisch geschützter Güter darstellt. Ihre Ausweitung ist daher nur zu rechtfertigen, wenn sie gravierende negative Folgen möglicher künftiger Pandemiewellen wie eine hohe Sterblichkeit, langfristige gesundheitliche Beeinträchtigungen signifikanter Teile der Bevölkerung oder einen drohenden Kollaps des Gesundheitssystems abzuschwächen oder zu verhindern vermag.

 

Impfpflicht kann nicht die vierte Welle brechen

 

Eine Impfpflicht kann kurzfristig nicht die gegenwärtige vierte Welle brechen. Ebenso kann eine Impfpflicht kein Allheilmittel gegen die Pandemie sein, sondern nur als Teil einer umfassenden, evidenzbasierten, differenzierten und vorausschauenden Pandemie-Gesamtstrategie erwogen werden.

 

Niedrigschwellige Impfangebote und ausreichend Impfstoff

 

Eine Ausweitung der Impfpflicht muss flankiert werden von einer Reihe von Maßnahmen, etwa einer flächendeckenden Infrastruktur mit sehr vielen niedrigschwelligen Impfangeboten und ausreichend Impfstoff. Empfohlen werden eine direkte Einladung von Impfverpflichteten, ein datensicheres nationales Impfregister sowie kontinuierliche Evaluation und Begleitforschung.

 

Keine Frontstellung zwischen Geimpften und nicht geimpften

 

Eine Impfpflicht muss mit zielgruppenspezifischer, kultursensibler, mehrsprachiger und leicht verständlicher Information, auch über soziale Medien, verbunden sein. Die politischen Akteure und staatlichen Instanzen sollten bei der Umsetzung der Impfpflicht bewusst darauf hinwirken, Frontstellungen zwischen geimpften und nicht geimpften Menschen zu vermeiden. Die Durchsetzung der Impfpflicht unter Anwendung von körperlicher Gewalt ("Zwangsimpfung") muss ausgeschlossen werden.

 

Alle Erwachsenen sollen geimpft werden

 

Über die konkrete Ausgestaltung einer erweiterten Impfpflicht gibt es im Ethikrat unterschiedliche Auffassungen. Sieben Ratsmitglieder plädieren dafür, eine Ausweitung der Impfpflicht auf erwachsene Personen zu beschränken, die bezüglich Covid-19 besonders vulnerabel sind (etwa Ältere und Vorerkrankte). Sie halten ein risikodifferenziertes Vorgehen für das mildere und damit verhältnismäßigere Mittel, um eine Überlastung des Gesundheitswesens, speziell der Intensivstationen, zu vermeiden. 13 Ratsmitglieder befürworten die Ausweitung auf alle in Deutschland lebenden impfbaren Erwachsenen. Sie gehen davon aus, dass dies notwendig ist, um das Ziel einer nachhaltigen, dauerhaft tragfähigen und gerechten Beherrschung der Pandemie zu erreichen.

 

Der Wortlaut der Ad-hoc-Empfehlung ist abrufbar unter https://we.tl/t-dMPNRb8zxJ, oder https://www.ethikrat.org/publikationen.

 pm, ots

 

English version

 

Based on a differentiated presentation of essential ethical and legal arguments for and against a general compulsory vaccination, the German Ethics Council argues in its ad hoc recommendation "Ethical orientation on the question of a general compulsory vaccination", published on 22 December, for an extension of compulsory vaccination beyond the area-based compulsory vaccination recently adopted by the German Bundestag.

 

With this recommendation, the German Ethics Council responds to a request by the Federal Government and the Minister Presidents of 2 December 2021 to provide an assessment of the ethical aspects of a general compulsory vaccination. It emphasises that high vaccination rates are crucial to move to a controlled endemic situation. Currently, the German health system is reaching its limits in many places. Virus variants such as Omikron and expected further variants of the virus force experts to constantly reassess their assessments of the future course of the pandemic.

 

Ad hoc recommendation with four votes against

 

With its ad hoc recommendation, adopted with the votes of 20 Council members and four against, the German Ethics Council wants to make a contribution to the ethical judgement regarding a possible extension of compulsory vaccination. It emphasises that a legal vaccination obligation always represents a considerable impairment of legally and morally protected goods. Its extension can therefore only be justified if it is able to mitigate or prevent serious negative consequences of possible future pandemic waves, such as high mortality, long-term health impairments of significant parts of the population or an imminent collapse of the health system.

 

Compulsory vaccination cannot break the fourth wave

 

Compulsory vaccination cannot break the current fourth wave in the short term. Similarly, compulsory vaccination cannot be a panacea against the pandemic, but can only be considered as part of a comprehensive, evidence-based, differentiated and forward-looking overall pandemic strategy.

 

Low-threshold immunisation services and sufficient vaccine

 

An expansion of mandatory vaccination must be flanked by a number of measures, such as a nationwide infrastructure with very many low-threshold vaccination offers and sufficient vaccine. Direct invitations to those obliged to vaccinate, a data-safe national vaccination register as well as continuous evaluation and accompanying research are recommended.

 

No frontline position between vaccinated and non-vaccinated people

 

Compulsory vaccination must be combined with target group-specific, culturally sensitive, multilingual and easy-to-understand information, also via social media. In implementing compulsory vaccination, political actors and state authorities should consciously work to avoid confrontations between vaccinated and non-vaccinated people. The enforcement of compulsory vaccination using physical force ("forced vaccination") must be ruled out.

 

All adults should be vaccinated

 

The Ethics Council has different opinions on the concrete form of an extended vaccination obligation. Seven Council members are in favour of limiting an extension of the vaccination obligation to adults who are particularly vulnerable with regard to Covid-19 (such as the elderly and those with previous illnesses). They consider a risk-differentiated approach to be the milder and thus more proportionate means to avoid overburdening the health care system, especially intensive care units. 13 Council members support the extension to all vaccinable adults living in Germany. They assume that this is necessary to achieve the goal of a sustainable, lasting and equitable control of the pandemic.

The text of the ad hoc recommendation is available at https://we.tl/t-dMPNRb8zxJ, or https://www.ethikrat.org/publikationen. pm, ots, mei